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13.03.2003: BGH: Im Ausland gegründete
Kapitalgesellschaften sind in Deutschland rechtsfähig
Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle
Nr. 32/2003
Bundesgerichtshof entscheidet über die Rechtsfähigkeit einer
niederländischen Gesellschaft (BV) nach Verlegung ihres Verwaltungssitzes in
die Bundesrepublik Deutschland
Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in einer Sache
verhandelt, in der es darum geht, ob die sogenannte Sitztheorie des
Internationalen Gesellschaftsrechts uneingeschränkt aufrechterhalten bleiben
kann. Eine in den Niederlanden gegründete Gesellschaft (BV) hatte einen
Unternehmer mit Malerarbeiten an einem in der Bundesrepublik Deutschland
gelegenen Gebäude beauftragt. Wegen behaupteter Mängel hat sie ihn beim
Landgericht Düsseldorf auf Zahlung von 1.163.657,77 DM nebst Zinsen als
Kostenaufwand für die Beseitigung der Mängel und daraus entstandener Schäden
verklagt. Die Klage war sowohl beim Land- als auch beim Oberlandesgericht
erfolglos, weil die BV mittlerweile ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in die
Bundesrepublik Deutschland verlegt und deshalb ihre Rechts- und Parteifähigkeit
verloren habe. Der Bundesgerichtshof hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage
vorgelegt, ob diese, auf der Sitztheorie beruhende Auffassung mit der im
EG-Vertrag vereinbarten Niederlassungsfreiheit vereinbar ist.
Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 5. November
2002 entschieden, es verstoße gegen Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer
Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie
ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem
Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, daß sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit
und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das
Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem
Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen werde. Mache ein
Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet worden ist, in
dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem anderen
Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so sei dieser andere
Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet, die Rechtsfähigkeit
und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht
des Gründungsstaats besitze.
Der VII. Zivilsenat war an diese Auslegung des
Gemeinschaftsrechts gebunden. Er hat es deshalb für erforderlich gehalten, die
Klägerin nach deutschem internationalen Gesellschaftsrecht hinsichtlich ihrer
Rechtsfähigkeit dem Recht des Staates zu unterstellen, in dem sie gegründet
worden ist. Nach seiner Entscheidung ist eine Gesellschaft, die unter dem Schutz
der im EG-Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit steht, berechtigt, ihre
vertraglichen Rechte in jedem Mitgliedstaat geltend zu machen, wenn sie nach der
Rechtsordnung des Staates, in dem sie gegründet worden ist und in dem sie nach
einer Verlegung ihres Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat weiterhin
ihren satzungsmäßigen Sitz hat, hinsichtlich des geltend gemachten Rechts
rechtsfähig ist.
Die Parteifähigkeit der Klägerin hängt nach dem
anwendbaren deutschen Prozeßrecht von der Rechtsfähigkeit ab, für die
insoweit das dargestellte Personalstatut maßgebend ist.
Im Ergebnis kann die Klägerin deshalb ihre Rechte aus dem
Vertrag abweichend von den Vorentscheidungen und der bisherigen Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs vor den deutschen Gerichten als niederländische BV
verfolgen. Sie muß sich nicht darauf verweisen lassen, daß sie nach deutschem
Recht als rechtsfähige Personengesellschaft aktiv und passiv parteifähig ist
(vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2000 - II ZR 380/00, BGHZ 151, 204). Denn eine
derartige Verweisung würde ebenfalls einen Verstoß gegen die
Niederlassungsfreiheit darstellen, wie der Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs unmißverständlich entnommen werden kann, weil sie damit nämlich
in eine andere Gesellschaftsform mit besonderen Risiken, wie z.B.
Haftungsrisiken, gedrängt würde..
Urteil vom 13. März 2003 - VII ZR 370/98
Karlsruhe, den 13. März 2003
Pressestelle des Bundesgerichtshofs
Quelle: www.bundesgerichtshof.de
5.11.2002: EuGH - Verweigerung der Eintragung
einer Zweigniederlassung einer EU- Gesellschaft verstößt gegen EU-Recht
(Überseering Urteil)
URTEIL DES GERICHTSHOFES
5. November 2002(1)
Artikel 43 EG und 48 EG - Gesellschaft, die nach dem Recht
eines Mitgliedstaats gegründet worden ist und dort ihren satzungsmäßigen
Sitz hat - Gesellschaft, die von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen
Mitgliedstaat Gebrauch macht - Gesellschaft, von der nach dem Recht des
Aufnahmemitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in diesen verlegt hat - Nichtanerkennung der Rechtsfähigkeit
und der Parteifähigkeit der Gesellschaft durch den Aufnahmemitgliedstaat -
Beschränkung der Niederlassungsfreiheit - Rechtfertigung
In der Rechtssache C-208/00
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Bundesgerichtshof
(Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Überseering BV
gegen
Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC)
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel
43 EG und 48 EG
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten
J. P. Puissochet, M. Wathelet (Berichterstatter) und R. Schintgen, der Richter
C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, P. Jann und V. Skouris, der
Richterinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr und J. N.
Cunha Rodrigues,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der Überseering BV, vertreten durch Rechtsanwalt W. H. Wagenführ,
- der Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC), vertreten durch
Rechtsanwalt F. Kösters,
- der deutschen Regierung, vertreten durch A. Dittrich und B. Muttelsee-Schön
als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. López-Monís Gallego als
Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten
im Beistand von F. Quadri, avvocato dello Stato,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Magrill
als Bevollmächtigte im Beistand von J. Stratford, Barrister,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M.
Patakia und C. Schmidt als Bevollmächtigte,
- der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch P. Dyrberg, J. F. Jónsson
und E. Wright als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Überseering BV, vertreten
durch W. H. Wagenführ, der Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC),
vertreten durch F. Kösters, der deutschen Regierung, vertreten durch A.
Dittrich, der spanischen Regierung, vertreten durch N. Díaz Abad als Bevollmächtigte,
der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster als Bevollmächtigte,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Magrill im
Beistand von J. Stratford, der Kommission, vertreten durch C. Schmidt, und der
EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch P. Dyrberg, in der Sitzung vom 16.
Oktober 2001,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4.
Dezember 2001,
folgendes
Urteil
- 1.
- Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 30. März 2000, bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 25. Mai 2000, gemäß Artikel 234
EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 43 EG und 48 EG zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Überseering
BV (im Folgenden: Überseering), einer am 22. August 1990 in das
Handelsregister von Amsterdam und Haarlem eingetragenen Gesellschaft niederländischen
Rechts, und der Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (im
Folgenden: NCC), einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, über die
Beseitigung von Mängeln bei der Ausführung von Bauarbeiten in Deutschland,
mit der Überseering NCC beauftragt hatte.
Nationales Recht
- 3.
- Nach der ZPO ist die Klage einer Partei, die nicht parteifähig ist, als
unzulässig abzuweisen. Nach § 50 Absatz 1 ZPO ist parteifähig, wer
rechtsfähig ist, d. h. die Fähigkeit besitzt, Träger von Rechten und
Pflichten zu sein; dies gilt auch für Gesellschaften.
- 4.
- Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der die
herrschende Lehre in Deutschland folgt, beurteilt sich die Frage, ob eine
Gesellschaft rechtsfähig ist, im Gegensatz zur Gründungstheorie, nach der
sich die Rechtsfähigkeit nach dem Recht des Staates bestimmt, in dem die
Gesellschaft gegründet worden ist, nach demjenigen Recht, das am Ort ihres
tatsächlichen Verwaltungssitzes gilt (Sitztheorie).Dies gilt auch dann,
wenn eine Gesellschaft in einem anderen Staat wirksam gegründet worden ist
und anschließend ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in die Bundesrepublik
Deutschland verlegt.
- 5.
- Eine solche Gesellschaft kann, soweit ihre Rechtsfähigkeit nach deutschem
Recht zu beurteilen ist, weder Träger von Rechten und Pflichten noch Partei
in einem Gerichtsverfahren sein, es sei denn, sie gründet sich in der
Bundesrepublik Deutschland in einer Weise neu, die zur Rechtsfähigkeit nach
deutschem Recht führt.
Ausgangsrechtsstreit
- 6.
- Im Oktober 1990 erwarb Überseering ein Grundstück in Düsseldorf, das
sie gewerblich nutzte. Mit Generalübernehmervertrag vom 27. November 1992
beauftragte Überseering NCC mit der Sanierung eines Garagengebäudes und
eines Motels, die auf diesem Grundstück befinden. Die Leistungen sind
erbracht, Überseering macht aber Mängel der Malerarbeiten geltend.
- 7.
- Im Dezember 1994 erwarben zwei in Düsseldorf wohnhafte deutsche
Staatsangehörige sämtliche Geschäftsanteile an Überseering.
- 8.
- Nachdem Überseering NCC vergeblich aufgefordert hatte, die festgestellten
Mängel zu beseitigen, verklagte sie 1996 NCC aus dem zwischen beiden
bestehenden Generalübernehmervertrag beim Landgericht Düsseldorf auf
Zahlung von 1 163 657,77 DM zuzüglich Zinsen als Ersatz der Kosten der
Beseitigung der angeblichen Mängel und der Folgeschäden.
- 9.
- Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht Düsseldorf wies
die Berufung zurück. Nach seinen Feststellungen hatte Überseering aufgrund
des Erwerbs ihrer Geschäftsanteile durch zwei deutsche Staatsangehörige
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Düsseldorf verlegt. Es vertrat
die Ansicht, dass Überseering als Gesellschaft niederländischen Rechts in
Deutschland nicht rechtsfähig und demnach auch nicht parteifähig sei.
- 10.
- Das Oberlandesgericht hielt die Klage von Überseering daher für unzulässig.
- 11.
- Überseering legte gegen dieses Urteil des Oberlandesgerichts Revision
beim Bundesgerichtshof ein.
- 12.
- Aus den Erklärungen von Überseering ergibt sich ferner, dass sie
parallel zum derzeit beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahren nach nicht
näher bezeichneten sonstigen deutschen Rechtsvorschriften bei einem
deutschen Gericht verklagt wurde. So sei sie vom Landgericht Düsseldorf -
wahrscheinlich aufgrund ihrer Eintragung vom 11. September 1991 in das
Grundbuch Düsseldorf als Eigentümerin des Grundstücks, auf dem das
Garagengebäude und das Motel stünden, die NCC saniert habe, - verurteilt
worden, Architektenhonorare zu begleichen.
Vorlagefragen
- 13.
- Der Bundesgerichtshof stellt fest, dass seine in den Randnummern 4 und 5
dieses Urteils dargelegte Rechtsprechung in unterschiedlicher Hinsicht von
einem Teil des deutschen Schrifttums abgelehnt werde, hält es aber aus
verschiedenen Gründen für vorzugswürdig, beim derzeitigen Stand des
Gemeinschaftsrechts und des Gesellschaftsrechts innerhalb der Europäischen
Union daran festzuhalten.
- 14.
- Zunächst seien alle Lösungsansätze abzulehnen, bei denen durch Berücksichtigung
unterschiedlicher Anknüpfungspunkte die Rechtsstellung einer Gesellschaft
nach mehreren Rechtsordnungen beurteilt werde. Solche Lösungsansätze führten
zu Rechtsunsicherheit, weil sich die Regelungsbereiche, die verschiedenen
Rechtsordnungen unterstellt werden sollten, nicht eindeutig voneinander
abgrenzen ließen.
- 15.
- Ferner komme die Anknüpfung an den Ort der Gründung den Gründern der
Gesellschaft entgegen, die gleichzeitig mit dem Gründungsort die ihnen
genehme Rechtsordnung wählen könnten. Hierin liege die entscheidende Schwäche
der Gründungstheorie, die vernachlässige, dass die Gründung und Betätigung
einer Gesellschaft auch die Interessen dritter Personen und des Staates berührten,
in dem sich der tatsächliche Verwaltungssitz befinde, sofern dieser sich in
einem anderen Staat als demjenigen befinde, in dem die Gesellschaft gegründet
worden sei.
- 16.
- Demgegenüber könne durch die Anknüpfung an den tatsächlichen
Verwaltungssitz verhindert werden, dass die gesellschaftsrechtlichen
Vorschriften des Staates des tatsächlichen Verwaltungssitzes, mit denen
bestimmte grundlegende Interessen geschützt werden sollten, durch eine Gründung
im Ausland umgangen würden. Im vorliegenden Fall wolle das deutsche Recht
u. a. die Interessen der Gläubiger der Gesellschaft schützen. Die
Rechtsvorschriften über die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)
gewährten diesen Schutz durch detaillierte Regelungen über die Einzahlung
und Erhaltung des Gesellschaftskapitals. Schutzbedürftig seien weiter bei
Verbindungen von Unternehmen auch die abhängigen Gesellschaften und deren
Minderheitsgesellschafter; diesem Schutz dienten in Deutschland u. a. die
Regeln des Konzernrechts oder bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen
die Regeln zur Entschädigung und zur Abfindung der durch diese Verträge
benachteiligten Gesellschafter. Dem Schutz der von der Gesellschaft beschäftigten
Arbeitnehmer dienten schließlich die Vorschriften über die Mitbestimmung.
Vergleichbare Regelungen bestünden nicht in allen Mitgliedstaaten.
- 17.
- Für den Bundesgerichtshof stellt sich jedoch die Frage, ob bei der grenzüberschreitenden
Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes nicht die in den Artikeln 43
EG und 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit der Anknüpfung der
Rechtsstellung der Gesellschaft an das Recht des Mitgliedstaats, in dem sich
ihr tatsächlicher Verwaltungssitz befindet, entgegensteht. Die Beantwortung
dieser Fragekann nach seiner Ansicht der Rechtsprechung des Gerichtshofes
nicht eindeutig entnommen werden.
- 18.
- In seinem Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 81/87 (Daily
Mail and General Trust, Slg. 1988, 5483) habe der Gerichtshof ausgeführt,
dass Gesellschaften von ihrer Niederlassungsfreiheit durch Gründung von
Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften sowie dadurch
Gebrauch machen könnten, dass sie ihr Kapital vollständig auf eine in
einem anderen Mitgliedstaat neu gegründete Gesellschaft übertrügen; auch
habe er festgestellt, dass Gesellschaften im Gegensatz zu natürlichen
Personen jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre
Existenz regele, keine Realität hätten. Aus diesem Urteil gehe ferner
hervor, dass der EG-Vertrag die Unterschiedlichkeit der nationalen
Kollisionsregeln hingenommen und die Lösung der damit verbundenen Probleme
zukünftiger Rechtsetzung vorbehalten habe.
- 19.
- Im Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C-212/97 (Centros, Slg.
1999, I-1459) habe der Gerichtshof die Weigerung einer dänischen Behörde
beanstandet, die Zweigniederlassung einer im Vereinigten Königreich wirksam
gegründeten Gesellschaft in das Handelsregister einzutragen. Der
Bundesgerichtshof weist jedoch darauf hin, dass diese Gesellschaft nicht
ihren Sitz verlegt habe, da sich von der Gründung an der satzungsmäßige
Sitz im Vereinigten Königreich und der tatsächliche Verwaltungssitz in Dänemark
befunden hätten.
- 20.
- Der Bundesgerichtshof fragt sich angesichts des Urteils Centros, ob die
Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit bei einem
Sachverhalt wie im Ausgangsverfahren dann der Anwendung der Kollisionsregeln
entgegenstehen, die in dem Mitgliedstaat gelten, in dem sich der tatsächliche
Verwaltungssitz einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründeten
Gesellschaft befindet, wenn diese Kollisionsregeln zur Folge haben, dass in
diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft und damit ihre
Parteifähigkeit zu dem Zweck, dort Ansprüche aus einem Vertrag geltend zu
machen, nicht anerkannt wird.
- 21.
- Der Bundesgerichtshof hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Artikel 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass es im
Widerspruch zur Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften steht, wenn die
Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem
Recht eines Mitgliedstaats wirksam gegründet worden ist, nach dem Recht des
Staates beurteilt werden, in den die Gesellschaft ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz verlegt hat, und wenn sich aus dessen Recht ergibt, dass sie
vertraglich begründete Ansprüche dort nicht mehr gerichtlich geltend
machen kann?
2. Sollte der Gerichtshof diese Frage bejahen:
Gebietet es die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften (Artikel 43 EG
und 48 EG), die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit nach dem Recht des
Gründungsstaats zu beurteilen?
Zur ersten Vorlagefrage
- 22.
- Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es gegen
die Artikel 43 EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft, die nach
dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen
Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in diesen verlegt hat, dort die Rechtsfähigkeit und damit
die Parteifähigkeit vor den nationalen Gerichten für das Geltendmachen von
Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen
Gesellschaft abgesprochen wird.
Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen
- 23.
- Nach Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der
italienischen Regierung verstößt es nicht gegen die Bestimmungen des
EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit, wenn die Rechtsfähigkeit und
die Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats wirksam gegründeten
Gesellschaft nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in den sie ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt haben soll, beurteilt werden und die
Gesellschaft gegebenenfalls in diesem anderen Mitgliedstaat Ansprüche aus
einem Vertrag mit einer dort ansässigen Gesellschaft nicht gerichtlich
geltend machen kann.
- 24.
- Zum einen stützen sie sich auf Artikel 293 Absatz 3 EG, der bestimmt:
Soweit erforderlich, leiten die Mitgliedstaaten untereinander
Verhandlungen ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen Folgendes
sicherzustellen:
...
- die gegenseitige Anerkennung der Gesellschaften im Sinne des Artikels
48 Absatz 2, die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des
Sitzes von einem Staat in einen anderen ...
- 25.
- Nach Auffassung von NCC liegt Artikel 293 EG die von allen Mitgliedstaaten
getragene Erkenntnis zugrunde, dass eine in einem Mitgliedstaat gegründete
Gesellschaft bei Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat ihre
Rechtspersönlichkeit nicht ohne weiteres beibehält, sondern dass es hierzu
eines gesonderten - bisher nicht geschlossenen - Übereinkommens der
Mitgliedstaaten bedarf. Der Verlust der Rechtspersönlichkeit einer
Gesellschaft bei Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen
anderen Mitgliedstaat sei daher mit den Gemeinschaftsvorschriften über die
Niederlassungsfreiheit vereinbar. Die Weigerungeines Mitgliedstaats, die
ausländische Rechtspersönlichkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat
gegründeten Gesellschaft anzuerkennen, die ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt habe, stelle keine Beschränkung
der Niederlassungsfreiheit dar, da diese Gesellschaft die Möglichkeit habe,
sich nach dem Recht dieses Mitgliedstaats neu zu gründen. Die
Niederlassungsfreiheit schütze allein das Recht, sich in diesem
Mitgliedstaat neu zu gründen oder Niederlassungen zu errichten.
- 26.
- Nach Meinung der deutschen Regierung haben die Verfasser des EG-Vertrags
die Artikel 43 EG und 48 EG in voller Kenntnis der großen Unterschiede
zwischen den Gesellschaftsrechten der Mitgliedstaaten und mit der Absicht in
den Vertrag aufgenommen, die nationale Zuständigkeit und die Maßgeblichkeit
des nationalen Rechts fortbestehen zu lassen, solange keine
Rechtsangleichung erfolgt sei. Zwar gebe es zahlreiche auf der Grundlage des
Artikels 44 EG erlassene Harmonisierungsrichtlinien auf dem Gebiet des
Gesellschaftsrechts; für die Sitzverlegung stehe eine solche Richtlinie
noch aus, und es sei auch noch kein multilaterales Übereinkommen gemäß
Artikel 293 EG auf diesem Gebiet geschlossen worden. Beim gegenwärtigen
Stand des Gemeinschaftsrechts seien die Anwendung der Theorie des wahren
oder tatsächlichen Verwaltungssitzes in Deutschland und ihre Auswirkung auf
die Anerkennung der Rechtsfähigkeit und der Parteifähigkeit von
Gesellschaften mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.
- 27.
- Auch nach Ansicht der italienischen Regierung zeigt die Tatsache, dass
Artikel 293 EG den Abschluss von Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten
vorsieht, um u. a. sicherzustellen, dass eine Gesellschaft bei Verlegung des
Sitzes von einem Staat in einen anderen ihre Rechtspersönlichkeit beibehält,
dass die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit nach Verlegung des
Gesellschaftssitzes nicht durch die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über
die Niederlassungsfreiheit geklärt worden ist.
- 28.
- Die spanische Regierung weist darauf hin, dass das am 29. Februar 1968 in
Brüssel unterzeichnete Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung
von Gesellschaften und juristischen Personen nie in Kraft getreten sei.
Mangels eines von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Artikels 293 EG
geschlossenen Übereinkommens bestehe daher keine Harmonisierung auf
Gemeinschaftsebene, die die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit
einer Gesellschaft im Fall der Sitzverlegung entscheiden könnte. Die
Artikel 43 EG und 48 EG enthielten nichts in dieser Hinsicht.
- 29.
- Ferner machen NCC sowie die deutsche, die spanische und die italienische
Regierung geltend, ihre Analyse werde durch das genannte Urteil Daily Mail
and General Trust gestützt, insbesondere durch dessen Randnummern 23 und
24:
... der EWG-Vertrag [betrachtet] die Unterschiede, die die
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre
Gesellschaften erforderlichen Anknüpfung sowie der Möglichkeit und
gegebenenfalls der Modalitäten einer Verlegung des satzungsmäßigen oder
wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen Rechts von einemMitgliedstaat in
einen anderen aufweisen, als Probleme, die durch die Bestimmungen über die
Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind, sondern einer Lösung im Wege der
Rechtssetzung oder des Vertragsschlusses bedürfen; eine solche wurde jedoch
noch nicht gefunden.
Somit gewähren die Artikel 52 [EWG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel
43 EG)] und 58 EWG-Vertrag [jetzt Artikel 48 EG] den Gesellschaften
nationalen Rechts kein Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter
Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer Gründung
in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.
- 30.
- Die deutsche Regierung ist der Ansicht, das Urteil Daily Mail and General
Trust betreffe zwar die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und dem
Mitgliedstaat, nach dessen Recht sie gegründet worden sei, in dem Fall der
Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes dieser Gesellschaft in einen
anderen Mitgliedstaat; die Erwägungen des Gerichtshofes in diesem Urteil
seien aber auf die Frage nach den Beziehungen zwischen einer in einem
Mitgliedstaat wirksam gegründeten Gesellschaft und einem anderen
Mitgliedstaat, in den sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlege (dem
Aufnahmestaat im Gegensatz zum Staat der Gründung der Gesellschaft), übertragbar.
Auf dieser Grundlage trägt sie vor, wenn eine in einem ersten Mitgliedstaat
wirksam gegründete Gesellschaft von ihrem Niederlassungsrecht in einem
anderen Mitgliedstaat durch Abtretung aller ihrer Geschäftsanteile an
Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats, in dem sie auch wohnten, Gebrauch
mache, unterliege die Frage, ob im Aufnahmestaat das nach den
Kollisionsregeln anwendbare Recht diese Gesellschaft fortbestehen lasse,
nicht den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit.
- 31.
- Auch die italienische Regierung ist der Ansicht, dass sich aus dem Urteil
Daily Mail and General Trust ergebe, dass die Kriterien zur Feststellung der
Identität von Gesellschaften nicht von der Ausübung des in den Artikeln 43
EG und 48 EG enthaltenen Niederlassungsrechts umfasst würden, sondern in
die Regelungsbefugnis der nationalen Rechtsordnungen fielen. Folglich könne
man sich nicht auf die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit
berufen, um die Anknüpfungspunkte zu harmonisieren; deren Festlegung falle
beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts ausschließlich in die
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sofern für Gesellschaften Anknüpfungspunkte
zu mehreren Staaten bestünden, müsse jede nationale Rechtsordnung
festlegen, wann eine Gesellschaft ihren Regelungen unterliege.
- 32.
- Für die spanische Regierung ist es nicht mit Artikel 48 EG unvereinbar,
dass eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft dort
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz haben muss, um in einem anderen
Mitgliedstaat als Gesellschaft angesehen zu werden, die das
Niederlassungsrecht ausüben kann.
- 33.
- Artikel 48 Absatz 1 EG stelle zwei Voraussetzungen dafür auf, dass die in
Absatz 2 dieses Artikels definierten Gesellschaften in gleicher Weise wie
die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten das Niederlassungsrecht
ausüben könnten; sie müssen zumeinen nach den Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats gegründet worden sein und zum anderen ihren satzungsmäßigen
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der
Gemeinschaft haben. Die zweite Voraussetzung sei durch das am 18. Dezember
1961 in Brüssel beschlossene Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen
der Niederlassungsfreiheit (ABl. 1962, Nr. 2, S. 36, im Folgenden:
Allgemeines Programm) geändert worden.
- 34.
- Das Allgemeine Programm bestimme in seinem Abschnitt I Begünstigte:
durch die ... Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
[werden] begünstigt:
...
- die Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats ... gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre
Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft oder
in einem überseeischen Land oder Hoheitsgebiet haben,
im Hinblick auf die tatsächliche Niederlassung zur Ausübung einer
selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats;
...
- die oben genannten Gesellschaften; sollten diese Gesellschaften
indessen nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der Gemeinschaft oder in
einem überseeischen Land oder Hoheitsgebiet haben, so muss ihre Tätigkeit
in tatsächlicher und dauerhafter Verbindung mit der Wirtschaft eines
Mitgliedstaats oder eines überseeischen Landes oder Hoheitsgebiets stehen;
diese Verbindung darf aber nicht von der Staatsangehörigkeit ... abhängig
gemacht werden;
im Hinblick auf die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder
Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats.
- 35.
- Auch wenn das Allgemeine Programm die Anwendung des Kriteriums der tatsächlichen
und dauerhaften Verbindung nur dazu vorsehe, von der Freiheit, eine
Zweitniederlassung zu gründen, Gebrauch zu machen, so müsse ein solches
Kriterium auch für die Hauptniederlassung gelten, damit die für die Ausübung
des Niederlassungsrechts aufgestellten Anknüpfungsvoraussetzungen homogen
seien.
- 36.
- Nach Ansicht von Überseering, der niederländischen Regierung und der
Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde
verstößt es gegen Artikel 43 EG in Verbindung mit Artikel 48 EG, wenn im
Fall einer nach dem Recht eines ersten Mitgliedstaats wirksam gegründeten
Gesellschaft, von der nach dem Recht eines zweiten Mitgliedstaats angenommen
wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in diesen zweiten
Mitgliedstaat verlegt hat, die dortgeltenden Kollisionsregeln vorsehen, dass
die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit dieser Gesellschaft nach dem
Recht dieses Staates zu beurteilen sind. Dies sei der Fall, wenn nach dem
Recht des zweiten Mitgliedstaats dieser Gesellschaft die Möglichkeit
vorenthalten werde, Rechte aus einem Vertrag mit einer in diesem Staat ansässigen
Gesellschaft gerichtlich geltend zu machen. Sie tragen hierfür Folgendes
vor.
- 37.
- Erstens macht die Kommission geltend, nach dem Wortlaut des Artikels 293
EG sei die Einleitung von Verhandlungen zur Beseitigung der Unterschiede
zwischen den nationalen Rechtsvorschriften über die Anerkennung ausländischer
Gesellschaften nur soweit erforderlich vorgesehen. Hätte im Jahr 1968 eine
einschlägige Rechtsprechung bestanden, wäre es nicht erforderlich gewesen,
von Artikel 293 EG Gebrauch zu machen. Dies erkläre die entscheidende
Bedeutung, die heute der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes für
die Ermittlung des Inhalts und der Tragweite der in den Artikeln 43 EG und
48 EG verankerten Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften zukomme.
- 38.
- Zweitens vertreten Überseering, die Regierung des Vereinigten Königreichs,
die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde die Ansicht, dass das
Urteil Daily Mail and General Trust in der vorliegenden Rechtssache nicht
einschlägig sei.
- 39.
- Wie sich aus dem diesem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt ergebe, sei
zu prüfen gewesen, welche Rechtsfolgen im Mitgliedstaat der Gründung einer
Gesellschaft die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes dieser
Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat habe, so dass dieses Urteil
nicht als Grundlage für die Prüfung der Frage dienen könne, welche
Rechtsfolgen eine solche Verlegung im Aufnahmemitgliedstaat habe.
- 40.
- Das Urteil Daily Mail and General Trust gelte nur für die Beziehung
zwischen dem Gründungsmitgliedstaat und der Gesellschaft, die diesen Staat
unter Wahrung der Rechtspersönlichkeit verlassen möchte, die ihr nach dem
Recht dieses Staates zuerkannt worden sei. Da Gesellschaften Schöpfungen
des nationalen Rechts seien, müssten sie weiterhin die nach dem Recht ihres
Gründungsstaats bestehenden Anforderungen beachten. Das Urteil Daily Mail
and General Trust erkenne somit das Recht des Mitgliedstaats der Gründung
einer Gesellschaft an, nach seinem internationalen Privatrecht die Gründung
und die rechtliche Existenz von Gesellschaften zu regeln. Es entscheide
dagegen nicht die Frage, ob eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete
Gesellschaft von einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden müsse.
- 41.
- Drittens ist nach Ansicht von Überseering, der Regierung des Vereinigten
Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde für die
Beantwortung der in der vorliegenden Rechtssache gestellten Frage nicht auf
das Urteil Daily Mail and General Trust, sondern auf das Urteil Centros
abzustellen. In dem diesem Urteil zugrunde liegenden Ausgangsrechtsstreit
sei es nämlich wie in der vorliegenden Rechtssache darum gegangen, wie im
Aufnahmemitgliedstaat eine Gesellschaft behandelt werde, dienach dem Recht
eines anderen Mitgliedstaaten gegründet worden sei und ihr
Niederlassungsrecht ausübe.
- 42.
- Die Rechtssache Centros betreffe die Zweitniederlassung einer
Gesellschaft, der Centros Ltd, in Dänemark als Aufnahmemitgliedstaat, die
wirksam im Vereinigten Königreich gegründet worden sei, in dessen
Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz gehabt habe, ohne dort eine
wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben. Die Centros Ltd habe in Dänemark
eine Zweigniederlassung gründen wollen, um dort den wesentlichen Teil ihrer
wirtschaftlichen Tätigkeiten auszuüben. Die dänischen Behörden hätten
die Existenz dieser Gesellschaft nach englischem Recht nicht in Zweifel
gezogen, ihr aber das Recht, in Dänemark durch Gründung einer
Zweigniederlassung von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen,
verweigert, da festgestanden habe, dass über diese Form der
Zweitniederlassung die Anwendung der dänischen Vorschriften über die Gründung
von Gesellschaften, u. a. in Bezug auf die Einzahlung eines Mindestkapitals,
hätten umgangen werden sollen.
- 43.
- Im Urteil Centros habe der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat
(der Aufnahmestaat) hinnehmen müsse, dass eine wirksam in einem anderen
Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft, die dort ihren satzungsmäßigen
Sitz habe, in seinem Hoheitsgebiet eine weitere Niederlassung eintragen
lasse (im gegebenen Fall eine Zweigniederlassung), von der aus sie ihre
gesamte Tätigkeit entfalten könne. Deswegen könne der
Aufnahmemitgliedstaat einer wirksam in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten
Gesellschaft nicht sein eigenes materielles Gesellschaftsrecht, insbesondere
die Vorschriften über das Gesellschaftskapital, entgegenhalten. Nach
Ansicht der Kommission muss es sich ebenso verhalten, wenn sich der
Aufnahmemitgliedstaat auf sein internationales Gesellschaftsrecht beruft.
- 44.
- Nach Auffassung der niederländischen Regierung stehen die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht der Anwendung der
Sitztheorie als solcher entgegen. Dagegen stellten die Folgen, die das
deutsche Recht an das knüpften, was es als Verlegung des Sitzes einer
Gesellschaft nach Deutschland betrachte, die im Übrigen ihre Rechtspersönlichkeit
aufgrund ihrer Gründung in einem anderen Mitgliedstaat besitze, eine Beschränkung
der Niederlassungsfreiheit dar, wenn sie dazu führten, dass die Rechtspersönlichkeit
dieser Gesellschaft nicht anerkannt werde.
- 45.
- Im EG-Vertrag stünden die drei Anknüpfungspunkte satzungsmäßiger Sitz,
tatsächlicher Verwaltungssitz (Hauptverwaltung) und Hauptniederlassung auf
gleicher Stufe. Im Vertrag finde sich kein Hinweis, dass der satzungsmäßige
Sitz und die Hauptverwaltung in ein und demselben Mitgliedstaat liegen müssten,
damit von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht werden könne.
Folglich stehe das Niederlassungsrecht auch einer Gesellschaft zu, deren
tatsächlicher Verwaltungssitz sich nicht mehr im Staat der Gründung dieser
Gesellschaft befinde. Es verstoße daher gegen die Bestimmungen des
EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit, wenn sich ein Mitgliedstaat
weigere, die Rechtsfähigkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam
gegründeten Gesellschaft anzuerkennen, die in seinem Hoheitsgebiet von
ihrer Freiheit der Zweitniederlassung Gebrauch mache.
- 46.
- Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, die im
Ausgangsverfahren in Rede stehenden deutschen Regeln verstießen gegen die
Artikel 43 EG und 48 EG, da sie bewirkten, dass eine Gesellschaft wie Überseering
daran gehindert werde, ihre Tätigkeiten über eine Agentur oder eine
Zweigniederlassung in Deutschland auszuüben, wenn diese Agentur oder diese
Zweigniederlassung nach deutschem Recht als tatsächlicher Verwaltungssitz
der Gesellschaft betrachtet werde, denn sie führten zum Verlust der Rechtsfähigkeit,
ohne die eine Gesellschaft nicht funktionieren könne.
- 47.
- Die EFTA-Überwachungsbehörde weist ergänzend darauf hin, dass die
Niederlassungsfreiheit nicht nur das Recht auf Zweitniederlassung in einem
anderen Mitgliedstaat umfasse, sondern für eine Gesellschaft, die ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlege, auch
das Recht, ihre ursprüngliche Niederlassung in dem Mitgliedstaat
beizubehalten, in dem sie gegründet worden sei. Die deutschen Regeln, die
im Ausgangsfall maßgeblich seien, würden bewirken, dass die
Niederlassungsfreiheit in eine Niederlassungspflicht verwandelt würde,
damit die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft und damit ihre Parteifähigkeit
erhalten werde. Sie stellten daher eine Beschränkung der im EG-Vertrag
vorgesehenen Niederlassungsfreiheit dar. Dieses Ergebnis bedeute nicht, dass
die Mitgliedstaaten keinen Anknüpfungspunkt zwischen einer Gesellschaft und
ihrem Hoheitsgebiet schaffen dürften; bei Ausübung dieser Befugnisse müssten
sie aber den EG-Vertrag beachten.
- 48.
- Die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs
und die EFTA-Überwachungsbehörde heben außerdem den Umstand hervor, dass
Überseering ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Sinne des deutschen
Rechts nicht nach Deutschland habe verlegen wollen. Überseering trägt vor,
dass sie sich nicht in den Niederlanden habe auflösen wollen, um sich in
Deutschland neu zu gründen, und dass sie weiterhin als Gesellschaft mit
beschränkter Haftung nach niederländischem Recht (BV) existieren wolle. Es
sei außerdem widersprüchlich, dass das deutsche Recht sie als solche
betrachte, wenn es darum gehe, sie zur Zahlung von Architektenhonoraren zu
verurteilen.
- 49.
- Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung geltend
gemacht, dass es sich nach niederländischem Recht in einer Situation wie im
Ausgangsverfahren um die Gründung einer Zweigniederlassung, also einer
Zweitniederlassung, handele. Es sei falsch, bei der Prüfung der
vorliegenden Rechtssache von der Prämisse auszugehen, dass es aufgrund der
bloßen Abtretung der Geschäftsanteile an in Deutschland wohnende deutsche
Staatsangehörige zu einer Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes
von Überseering nach Deutschland gekommen sei. Eine solche Analyse sei nämlich
eine solche des deutschen Privatrechts. Nichts deute darauf hin, dass Überseering
die Absicht gehabt habe, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach
Deutschland zu verlegen. Wenn so argumentiert werde, als handele es sich um
eine Hauptniederlassung, ziele dies darauf ab, dem Urteil Centros, in dem es
um die sekundäre Form der Niederlassung gegangen sei, die sich aus der Gründung
einer Zweigniederlassung ergebe, seine Bedeutung zu nehmen und zu versuchen,
dievorliegende Rechtssache mit der Rechtssache Daily Mail and General Trust
gleichzusetzen.
- 50.
- Die Regierung des Vereinigten Königreichs weist darauf hin, dass Überseering
in den Niederlanden wirksam gegründet worden sei, immer im Handelsregister
von Amsterdam und Haarlem als Gesellschaft niederländischen Rechts
eingetragen gewesen sei und nicht versucht habe, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz nach Deutschland zu verlegen. Sie habe lediglich aufgrund
einer Eigentumsübertragung seit 1994 den Großteil ihrer Tätigkeiten in
Deutschland ausgeübt und dort bestimmte Versammlungen abgehalten. Sie müsse
in der Praxis also so angesehen werden, als habe sie in Deutschland über
eine Agentur oder Zweigniederlassung gehandelt. Diese Sachlage unterscheide
sich grundlegend von derjenigen, die der Rechtssache Daily Mail and General
Trust zugrunde gelegen habe, in der es um einen bewussten Versuch gegangen
sei, den Sitz einer Gesellschaft englischen Rechts und die Kontrolle über
die Gesellschaft aus dem Vereinigten Königreich in einen anderen
Mitgliedstaat zu verlegen und dabei zwar den Status einer im Vereinigten Königreich
wirksam gegründeten Gesellschaft beizubehalten, aber nicht den steuerlichen
Anforderungen unterworfen zu sein, die im Vereinigten Königreich mit der
Verlegung der Verwaltung einer Gesellschaft und der Kontrolle über sie ins
Ausland verbunden seien.
- 51.
- Nach Auffassung der EFTA-Überwachungsbehörde zeigt sich darin, dass Überseering
aufgrund der offenbar ungebetenen Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort ihre Parteifähigkeit abgesprochen
werde, die Unsicherheit, die die Anwendung der unterschiedlichen
internationalen Privatrechte der Mitgliedstaaten für grenzüberschreitende
Geschäfte mit sich bringen kann. Da die Bestimmung des tatsächlichen
Verwaltungssitzes weitgehend auf der Grundlage von Tatsachen erfolge, sei es
immer möglich, dass unterschiedliche nationale Rechtssysteme, und in diesen
sogar verschiedene Gerichte, unterschiedlich beurteilten, was einen tatsächlichen
Verwaltungssitz darstelle. Außerdem werde es immer schwieriger, den tatsächlichen
Verwaltungssitz in einer globalisierten und computerbeherrschten Wirtschaft
zu bestimmen, in der die persönliche Anwesenheit der Entscheidungsträger
immer weniger erforderlich sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur Anwendbarkeit der Bestimmungen des EG-Vertrags über die
Niederlassungsfreiheit
- 52.
- Vorab ist entgegen der Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen
und der italienischen Regierung klarzustellen, dass im Fall einer
Gesellschaft, die wirksam in einem ersten Mitgliedstaat gegründet worden
ist, dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat und von der nach dem Recht eines
zweiten Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie nach der Abtretung aller
ihrer Geschäftsanteile an Staatsangehörige dieses Staates, in dem diese
auch wohnen, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, die
Regeln, die der zweite Mitgliedstaat auf diese Gesellschaft anwendet, beim
gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht aus dem Anwendungsbereich
der Gemeinschaftsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit fallen.
- 53.
- Insoweit ist erstens das auf Artikel 293 EG gestützte Vorbringen von NCC
sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen Regierung zurückzuweisen.
- 54.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 42 seiner Schlussanträge ausführt,
stellt Artikel 293 EG nämlich keinen Rechtsetzungsvorbehalt zugunsten der
Mitgliedstaaten dar. Diese Vorschrift fordert die Mitgliedstaaten zwar auf,
Verhandlungen einzuleiten, u. a. um die Lösung der Probleme zu erleichtern,
die sich aus der Unterschiedlichkeit der Rechtsvorschriften über die
gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und über die Aufrechterhaltung
ihrer Rechtspersönlichkeit bei grenzüberschreitender Sitzverlegung
ergeben, dies aber nur, soweit erforderlich, also für den Fall, dass die
Bestimmungen des EG-Vertrags nicht die Erreichung der Vertragsziele ermöglichen.
- 55.
- Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Übereinkünfte, zu
deren Abschluss Artikel 293 EG anregt, genau wie die in Artikel 44 EG
vorgesehenen Harmonisierungsrichtlinien die Verwirklichung der
Niederlassungsfreiheit erleichtern können, das Gebrauchmachen von dieser
Freiheit aber nicht vom Abschluss solcher Übereinkünfte abhängen kann.
- 56.
- Wie der Gerichtshof bereits bei anderer Gelegenheit ausgeführt hat,
umfasst die Niederlassungsfreiheit, die Artikel 43 EG den Gemeinschaftsangehörigen
zuerkennt, das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten
sowie zur Errichtung von Unternehmen und zur Ausübung der Unternehmertätigkeit
nach den Bestimmungen, die im Niederlassungsstaat für dessen eigene Angehörigen
gelten. Außerdem stehen nach dem Wortlaut des Artikels 48 EG für die
Anwendung [der Bestimmungen des EG-Vertrags über das Niederlassungsrecht]
die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder
ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen
Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
- 57.
- Hieraus folgt unmittelbar, dass diese Gesellschaften das Recht haben, ihre
Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die
Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit
zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen.
- 58.
- Auf diese Prämissen hat der Gerichtshof seine Erwägungen im Urteil
Centros (Randnrn. 19 und 20) gestützt.
- 59.
- Die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit setzt zwingend die
Anerkennung dieser Gesellschaften durch alle Mitgliedstaaten voraus, in
denen sie sich niederlassen wollen.
- 60.
- Es ist daher nicht erforderlich, dass die Mitgliedstaaten eine Übereinkunft
über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften schließen, damit die
Gesellschaften, diedie in Artikel 48 EG genannten Voraussetzungen erfüllen,
von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen können, die ihnen in den
seit Ablauf der Übergangszeit unmittelbar anwendbaren Artikeln 43 EG und 48
EG zuerkannt wird. Folglich kann kein Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung
der vollen Wirksamkeit dieser Artikel daraus hergeleitet werden, dass bis
heute keine Übereinkunft über die gegenseitige Anerkennung von
Gesellschaften auf der Grundlage des Artikels 293 EG geschlossen worden ist.
- 61.
- Zweitens ist das Vorbringen zu prüfen, das sich auf das Urteil Daily Mail
and General Trust, das im Mittelpunkt der Erörterungen vor dem Gerichtshof
gestanden hat, stützt. Dieses Vorbringen ist insoweit zu prüfen, als es
darauf gerichtet ist, der dem Urteil Daily Mail and General Trust zugrunde
liegenden Situation in gewisser Weise die Sachlage gleichzusetzen, aus der
das deutsche Recht den Verlust der Rechtsfähigkeit und den Verlust der
Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaft ableitet.
- 62.
- Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil Daily Mail and General
Trust die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und einem Mitgliedstaat,
nach dessen Recht sie gegründet worden ist, in dem Fall betrifft, in dem
die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz unter Wahrung der ihr
in ihrem Gründungsstaat zuerkannten Rechtspersönlichkeit in einen anderen
Mitgliedstaat verlegen wollte. Hingegen handelt es sich im
Ausgangsrechtsstreit um die Anerkennung einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft durch einen anderen Mitgliedstaat;
dabei wird einer solchen Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit
abgesprochen, da er davon ausgeht, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt hat, ohne dass es hierfür
darauf ankäme, ob die Gesellschaft tatsächlich eine Sitzverlegung
vornehmen wollte.
- 63.
- Wie sowohl die niederländische Regierung und die Regierung des
Vereinigten Königreichs als auch die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde
geltend machen, hat Überseering nie die Absicht bekundet, ihren Sitz nach
Deutschland zu verlegen. Ihre rechtliche Existenz ist nach dem Recht ihres
Gründungsstaats durch die Abtretung ihrer sämtlichen Geschäftsanteile an
in Deutschland wohnende Personen nie in Frage gestellt worden. Insbesondere
ist sie nicht Gegenstand von Auflösungsmaßnahmen nach niederländischem
Recht gewesen, nach dem sie nie aufgehört hat, wirksam zu bestehen.
- 64.
- Selbst wenn man den Ausgangsrechtsstreit so verstünde, als ginge es um
die grenzüberschreitende Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes,
ist daher die von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der
italienischen Regierung vertretene Auslegung des Urteils Daily Mail and
General Trust unzutreffend.
- 65.
- In der Rechtssache, in der dieses Urteil erging, wollte die Daily Mail and
General Trust PLC, eine nach dem Recht des Vereinigten Königreich gegründete
Gesellschaft, die dort sowohl ihren satzungsmäßigen Sitz als auch ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz hatte, Letzteren in einen anderen
Mitgliedstaat verlegen, ohne ihreRechtspersönlichkeit oder ihre Eigenschaft
als Gesellschaft englischen Rechts zu verlieren; die dafür erforderliche
Genehmigung der zuständigen britischen Behörden wurde ihr verweigert. Sie
verklagte diese Behörden daher beim High Court of Justice, Queen's Bench
Division (Vereinigtes Königreich), und machte geltend, dass die Artikel 52
und 58 des EWG-Vertrags ihr das Recht zuerkennen würden, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz ohne vorherige Genehmigung und ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit
in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.
- 66.
- Anders als im Ausgangsverfahren ging es somit in der Rechtssache, in der
das Urteil Daily Mail and General Trust erging, nicht darum, wie ein
Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründete
Gesellschaft zu behandeln hat, die im ersten Mitgliedstaat von ihrer
Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht.
- 67.
- Im Zusammenhang mit der Frage des High Court of Justice, ob die
Bestimmungen des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit einer
Gesellschaft das Recht zuerkennen, ihre Geschäftsleitung in einen anderen
Mitgliedstaat zu verlegen, erinnert der Gerichtshof in Randnummer 19 des
Urteils Daily Mail and General Trust daran, dass eine aufgrund einer
nationalen Rechtsordnung gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen
Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität
hat.
- 68.
- In Randnummer 20 dieses Urteils unterstreicht der Gerichtshof die
Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich dessen,
was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen
Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem
nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich
zu ändern.
- 69.
- In Randnummer 23 dieses Urteils kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis,
dass der EG-Vertrag diese Unterschiede als Probleme betrachtet, die durch
die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst
sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des
Vertragsschlusses bedürfen; eine solche war jedoch noch nicht gefunden
worden.
- 70.
- Dabei hat sich der Gerichtshof darauf beschränkt, festzustellen, dass
sich die Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete
Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne die ihr
durch die Rechtsordnung des Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit
zu verlieren, und gegebenenfalls die Modalitäten dieser Verlegung nach den
nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen diese Gesellschaft gegründet
worden ist. Er zog daraus den Schluss, dass ein Mitgliedstaat die Möglichkeit
hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft Beschränkungen
hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes aus seinem
Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr nach dem Recht dieses Staates
zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten kann.
- 71.
- Der Gerichtshof hat sich dagegen nicht zu der Frage geäußert, ob in
einem Fall wie im Ausgangsverfahren, in dem von einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in diesen verlegt hat, dieser andere Mitgliedstaat sich
weigern darf, die Rechtspersönlichkeit anzuerkennen, die ihr nach der
Rechtsordnung ihres Gründungsstaats zuerkannt wird.
- 72.
- Ungeachtet des allgemein gehaltenen Wortlauts der Randnummer 23 des
Urteils Daily Mail and General Trust wollte der Gerichtshof den
Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit einräumen, die tatsächliche
Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit in ihrem Hoheitsgebiet durch in
anderen Mitgliedstaaten wirksam gegründete Gesellschaften, von denen sie
annehmen, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in ihr Hoheitsgebiet
verlegt haben, von der Beachtung ihres nationalen Gesellschaftsrechts abhängig
zu machen.
- 73.
- Dem Urteil Daily Mail and General Trust kann daher nicht entnommen werden,
dass in dem Fall, dass eine Gesellschaft, die nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründet worden ist und der dort Rechtspersönlichkeit
zuerkannt wird, von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen
Mitgliedstaat Gebrauch macht, die Frage der Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit
und ihrer Parteifähigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung nicht den
Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit unterliegt.
Dies gilt selbst dann, wenn von dieser Gesellschaft nach dem Recht des
Mitgliedstaats der Niederlassung angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz dorthin verlegt hat.
- 74.
- Drittens ist das Vorbringen der spanischen Regierung zurückzuweisen, in
einer Situation wie im Ausgangsverfahren mache das Allgemeine Programm in
seinem Titel I die Inanspruchnahme der durch den EG-Vertrag garantierten
Niederlassungsfreiheit vom Bestehen einer tatsächlichen und dauerhaften
Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaats abhängig.
- 75.
- Wie sich nämlich aus dem Wortlaut des Allgemeinen Programms ergibt,
verlangt dieses eine tatsächliche und dauerhafte Verbindung allein für den
Fall, dass die Gesellschaft nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der
Gemeinschaft hat. Bei Überseering, die sowohl ihren satzungsmäßigen Sitz
als auch ihren tatsächlichen Verwaltungssitz innerhalb der Gemeinschaft
hat, verhält es sich unbestreitbar nicht so. Der Gerichtshof hat für diese
Fallkonstellation in Randnummer 19 des Urteils Centros festgestellt, dass
Artikel 58 EG-Vertrag die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder
ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen
Personen gleichstellt, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
- 76.
- Nach alledem beruft sich Überseering zu Recht auf die
Niederlassungsfreiheit, um sich dagegen zur Wehr zu setzen, dass das
deutsche Recht sie nicht als parteifähige juristische Person ansieht.
- 77.
- Ferner ist daran zu erinnern, dass der Erwerb von Geschäftsanteilen an
einer in einem Mitgliedstaat gegründeten und ansässigen Gesellschaft durch
eine oder mehrere natürliche Personen mit Wohnort in einem anderen
Mitgliedstaat grundsätzlich den Bestimmungen des EG-Vertrags über den
freien Kapitalverkehr unterliegt, wenn eine solche Beteiligung ihnen nicht
einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht und
sie deren Tätigkeiten nicht bestimmen können. Wenn dagegen der Erwerb sämtliche
Geschäftsanteile einer Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in einem
anderen Mitgliedstaat umfasst und eine solche Beteiligung einen gewissen
Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht und es diesen
Personen ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen, sind die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit anwendbar (vgl. in diesem
Sinne Urteil vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-251/98, Baars, Slg.
2000, I-2787, Randnrn. 21 und 22).
Zum Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
- 78.
- Sodann ist zu prüfen, ob die Weigerung der deutschen Gerichte, einer nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründeten Gesellschaft die
Rechts- und Parteifähigkeit zuzuerkennen, eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit darstellt.
- 79.
- In einer Situation wie im Ausgangsverfahren hat eine Gesellschaft, die
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats als der Bundesrepublik
Deutschland wirksam gegründet worden ist und in diesem anderen
Mitgliedstaat ihren satzungsmäßigen Sitz hat, nach deutschem Recht keine
andere Wahl, als sich in Deutschland neu zu gründen, wenn sie vor einem
deutschen Gericht Ansprüche aus einem Vertrag mit einer Gesellschaft
deutschen Rechts geltend machen möchte.
- 80.
- Überseering, die in den Niederlanden wirksam gegründet worden ist und
dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, genießt aufgrund der Artikel 43 EG
und 48 EG das Recht, als Gesellschaft niederländischen Rechts in
Deutschland von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Insoweit
ist es unbeachtlich, dass nach der Gründung dieser Gesellschaft deren
gesamtes Kapital von in Deutschland ansässigen deutschen Staatsangehörigen
erworben wurde, denn dieser Umstand hat offenbar nicht zum Verlust der
Rechtspersönlichkeit geführt, die ihr die niederländische Rechtsordnung
zuerkennt.
- 81.
- Ihre Existenz hängt sogar untrennbar mit ihrer Eigenschaft als
Gesellschaft niederländischen Rechts zusammen, da eine Gesellschaft, wie
bereits ausgeführt wurde, jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre
Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat (in diesem Sinne
Urteil Daily Mail and General Trust, Randnr. 19). Das Erfordernis, dieselbe
Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, kommt daher der Negierung der
Niederlassungsfreiheit gleich.
- 82.
- Unter diesen Umständen stellt es eine mit den Artikeln 43 EG und 48 EG
grundsätzlich nicht vereinbare Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
dar, wenn ein Mitgliedstaat sich u. a. deshalb weigert, die Rechtsfähigkeit
einer Gesellschaft, die nach dem Rechteines anderen Mitgliedstaats gegründet
worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, anzuerkennen, weil die
Gesellschaft im Anschluss an den Erwerb sämtlicher Geschäftsanteile durch
in seinem Hoheitsgebiet wohnende eigene Staatsangehörigen, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt haben soll, mit der Folge,
dass die Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat nicht zu dem Zweck parteifähig
ist, ihre Ansprüche aus einem Vertrag geltend zu machen, es sei denn, dass
sie sich nach dem Recht dieses Aufnahmestaats neu gründet.
Zur eventuellen Rechtfertigung der Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit
- 83.
- Schließlich ist zu prüfen, ob eine solche Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit durch die sowohl vom vorlegenden Gericht als auch von
der deutschen Regierung angeführten Gründe gerechtfertigt sein kann.
- 84.
- Die deutsche Regierung macht hilfsweise für den Fall, dass der
Gerichtshof die Anwendung der Sitztheorie als eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit ansehen sollte, geltend, dass diese Beschränkung
ohne Diskriminierung angewandt werde, durch zwingende Gründe des
Gemeinwohls gerechtfertigt sei und in einem angemessenen Verhältnis zu den
verfolgten Zielen stehe.
- 85.
- Der nicht diskriminierende Charakter ergebe sich daraus, dass die sich aus
der Sitztheorie ergebenden Rechtsregeln nicht nur für ausländische
Gesellschaften gelten würden, die sich durch Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort niederließen, sondern auch für
Gesellschaften deutschen Rechts, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
aus Deutschland heraus verlegten.
- 86.
- Zu den zwingenden Gründen des Gemeinwohls, die zur Rechtfertigung der
angeblichen Beschränkung angeführt würden, sei zu bemerken, dass das
abgeleitete Gemeinschaftsrecht in anderen Bereichen voraussetze, dass der
Verwaltungssitz und der satzungsmäßige Sitz identisch seien. Das
Gemeinschaftsrecht habe somit grundsätzlich anerkannt, dass die Einheit von
satzungsmäßigem Sitz und Verwaltungssitz berechtigt sei.
- 87.
- Die Regeln des deutschen internationalen Gesellschaftsrechts dienten der
Rechtssicherheit und dem Gläubigerschutz. Auf Gemeinschaftsebene seien die
Modalitäten des Schutzes des Gesellschaftskapitals von Gesellschaften mit
beschränkter Haftung nicht harmonisiert, und diese Gesellschaften unterlägen
in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland zum Teil
wesentlich geringeren Anforderungen. Die im deutschen Recht angewandte
Sitztheorie stelle in diesem Zusammenhang sicher, dass eine Gesellschaft,
deren Tätigkeitsschwerpunkt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland liege,
mit einem bestimmten Mindestkapital ausgestattet sei, was zur Sicherung
ihrer Vertragspartner und Gläubiger beitrage. Außerdem würden damit
Wettbewerbsverzerrungen verhindert, da alle schwerpunktmäßig in
Deutschland tätigen Gesellschaften gleichen rechtlichen Rahmenbedingung
unterworfen würden.
- 88.
- Eine weitere Rechtfertigung stelle der Schutz der
Minderheitsgesellschafter dar. Mangels eines Gemeinschaftsstandards für
diesen Schutz müsse es einem Mitgliedstaat möglich sein, bei allen
Gesellschaften, deren Tätigkeitsschwerpunkt in seinem Hoheitsgebiet liege,
die gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz von
Minderheitsgesellschaftern durchzusetzen.
- 89.
- Auch der Arbeitnehmerschutz durch die Mitbestimmung im Unternehmen gemäß
den gesetzlich festgelegten Bedingungen rechtfertige die Anwendung der
Sitztheorie. Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach
Deutschland könnte, wenn die Gesellschaft ihre Eigenschaft als Gesellschaft
dieses Rechts bewahren würde, die Gefahr einer Umgehung der deutschen
Mitbestimmungsvorschriften mit sich bringen, die es den Arbeitnehmern unter
bestimmten Voraussetzungen ermöglichten, im Aufsichtsrat der Gesellschaft
vertreten zu sein. Ein solches Organ gebe es bei den Gesellschaften der
anderen Mitgliedstaaten nicht immer.
- 90.
- Schließlich rechtfertigten die Fiskalinteressen die Beschränkung, die
sich eventuell aus der Anwendung der Sitztheorie ergebe. Die Gründungstheorie
ermögliche in größerem Umfang als die Sitztheorie die Gründung von
Gesellschaften mit doppelter Ansässigkeit, die deshalb in zwei oder mehr
Mitgliedstaaten unbeschränkt steuerpflichtig seien. Bei solchen
Gesellschaften bestehe die Gefahr, dass sie in mehreren Mitgliedstaten
parallel Steuervorteile beanspruchten und erlangten. Als Beispiel sei die
grenzüberschreitende Verrechnung von Verlusten auf Gewinne zwischen
verbundenen Unternehmen zu nennen.
- 91.
- Nach Ansicht der niederländischen Regierung und der Regierung des
Vereinigten Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde
ist die fragliche Beschränkung nicht gerechtfertigt. Das Ziel des Gläubigerschutzes
sei auch von den dänischen Behörden in der Rechtssache Centros angeführt
worden, um die Weigerung zu rechtfertigen, in Dänemark die
Zweigniederlassung einer Gesellschaft einzutragen, die im Vereinigten Königreich
wirksam gegründet worden sei und deren sämtliche Tätigkeiten in Dänemark
hätten ausgeübt werden sollen, ohne die Anforderungen des dänischen
Rechts in Bezug auf die Gründung und die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals zu erfüllen. Es sei außerdem zweifelhaft,
dass die Anforderungen hinsichtlich eines Mindestgesellschaftskapitals ein
wirksames Mittel zum Schutz von Gläubigern darstellten.
- 92.
- Es lässt sich nicht ausschließen, dass zwingende Gründe des
Gemeinwohls, wie der Schutz der Interessen der Gläubiger, der
Minderheitsgesellschafter, der Arbeitnehmer oder auch des Fiskus, unter
bestimmten Umständen und unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen Beschränkungen
der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können.
- 93.
- Solche Ziele können es jedoch nicht rechtfertigen, dass einer
Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß gegründet
worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, die Rechtsfähigkeit
und damit die Parteifähigkeitabgesprochen wird. Eine solche Maßnahme kommt
nämlich der Negierung der den Gesellschaften in den Artikeln 43 EG und 48
EG zuerkannten Niederlassungsfreiheit gleich.
- 94.
- Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass es gegen die Artikel 43
EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des
Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz
hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit
und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das
Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem
Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen wird.
Zur zweiten Vorlagefrage
- 95.
- Aus der Antwort auf die erste Vorlagefrage folgt, dass in dem Fall, dass
eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet worden
ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem
anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht,
dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet
ist, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die
diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.
Kosten
- 96.
- Die Auslagen der deutschen, der spanischen, der italienischen und der
niederländischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs
sowie der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für
die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in
dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 30. März 2000
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Es verstößt gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer
Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet
sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach
demRecht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit
und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das
Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem
Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen wird.
2. Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet
worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in
einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so
ist dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG
verpflichtet, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten,
die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. November 2002.
Quelle: EuGH
30.03.2000: BGH läßt "Sitztheorie" durch den
EuGH überprüfen
Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle
Nr. 21/2000
Bundesgerichtshof läßt "Sitztheorie" durch den
Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften überprüfen
Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat dem Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften in einem am 30. März 2000 verkündeten Beschluß Fragen zur
Vorabentscheidung vorgelegt, die die Vereinbarkeit der sogenannten Sitztheorie
mit dem im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag)
verankerten Recht auf Niederlassungsfreiheit betreffen.
In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit hat eine in den Niederlanden gegründete
"BV" Gewährleistungsansprüche aus einem Bauvertrag über die
Errichtung eines Hauses in Düsseldorf geltend gemacht. Nach Vertragsschluß und
vor Klageerhebung hatte die "BV" ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in die Bundesrepublik Deutschland verlegt. Die Vorinstanzen haben die Klage
unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als unzulässig
abgewiesen, weil die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland infolge der
Sitzverlegung nicht rechtsfähig und damit auch nicht parteifähig sei. Die
Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft richte sich nach demjenigen Recht, das am
Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes gilt (sog. Sitztheorie). Das gelte
auch dann, wenn eine Gesellschaft in einem Staat wirksam gegründet worden sei
und danach ihren Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlege. Eine
nicht im Handelsregister eingetragene "BV" mit Verwaltungssitz in der
Bundesrepublik sei nach deutschem Recht nicht rechtsfähig.
Die in vielen Staaten vertretene Sitztheorie will im wesentlichen vermeiden,
daß die in dem jeweiligen Staat zum Schutz der Gläubiger und der
Gesellschafter erlassenen Vorschriften dadurch leer laufen, daß sich eine
Gesellschaft in einem anderen Staat gründet und sodann ihren Verwaltungssitz in
den betreffenden Staat verlegt. Wäre in diesem Fall das Recht des Gründungsstaates
anwendbar, wäre zu befürchten, daß sich diejenige Rechtsordnung durchsetzt,
die den schwächsten Schutz dritter Interessen vorsieht.
Der Bundesgerichtshof hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
die Frage vorgelegt, ob eine derartige Beurteilung der in Art. 43 und Art. 48
des EG-Vertrages garantierten Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften
entgegensteht. Er hat darauf hingewiesen, daß die bisherige Rechtsprechung des
Gerichtshofs in seinen unter den Kürzeln "Daily Mail" und "Centros"
bekannt gewordenen Entscheidungen diese Frage nicht deutlich entschieden habe.
Der Bundesgerichtshof hat zugleich angefragt, ob es die Niederlassungsfreiheit
gebietet, die in anderen Staaten vertretene sogenannte Gründungstheorie
anzuwenden. Danach beurteilt sich die Rechtsfähigkeit auch dann nach der
Rechtsordnung des Staates, in dem die Gesellschaft gegründet wurde, wenn sie
ihren Sitz nachträglich in einen anderen Staat verlegt.
Beschluß vom 30. März 2000 – VII ZR 370/98
Karlsruhe, den 5. April 2000
Quelle:
www.bundesgerichtshof.de
9.3.1999: EuGH - Verweigerung der Eintragung
einer Zweigniederlassung einer EU- Gesellschaft verstößt gegen EU-Recht (Centros
Urteil)
Europarecht
Europäischer
Gerichtshof (EuGH)
Niederlassungsfreiheit und Sitztheorie
Sachverhalt:
Die Kl. des dänischen Ausgangsfalles ist die in England eingetragene
"Centros Ltd.", eine nach englischem Recht gegründete "private
limited company" (Gesellschaft mit beschränkter Haftung), deren
Gesellschafter die in Dänemark ansässigen dänischen Eheleute Bryde sind. Der
Antrag der Kl. Auf Eintragung einer Zweigniederlassung in Dänemark wurde von
der dem dänischen Handelsministerium unterstehenden Zentralverwaltung für
Handel und Gesellschaften mit der (sachlich zutreffenden) Begründung abgelehnt,
die Kl. übe in Großbritannien keine Tätigkeit aus, die Eintragung der sog.
"Zweigniederlassung", die in Wirklichkeit der Hauptsitz sei, diene
allein der Umgehung der - strengeren dänischen Vorschriften über die
Einzahlung eines Mindestkapitals und müsse verweigert werden, um die öffentlichen
und privaten Gläubiger und die Vertragspartner zu schützen und den betrügerischen
Bankrott zu bekämpfen. Die dagegen erhobene Klage wurde in erster Instanz
abgewiesen. Dagegen wurde Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht legte dem
EuGH die Frage vor, ob Art. 43, 48 EGV (Art. 52, 58 a.F.) der Weigerung der dänischen
Behörden entgegenstünden.
Leitsätze des EuGH:
1. Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, verstößt gegen die Art. 52 und 58 EG-Vertrag, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt.
2. Diese Auslegung schließt jedoch nicht aus, daß die Behörden des
betreffenden Mitgliedstaats alle geeigneten Maßnahmen treffen können, um Betrügereien
zu verhindern oder zu verfolgen. Dies gilt sowohl - gegebenenfalls im
Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde - gegenüber
der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den Gesellschaftern, wenn diese sich
mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber inländischen
Privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten.
Gründe:
14. Die Frage des nationalen Gerichts geht dahin, ob ein Mitgliedstaat, der
die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in
einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet
worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, gegen die Art. 52 und 58
EGV verstößt, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen
soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese
Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten, und
damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das
höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt.
15. Die Zentralverwaltung bestreitet nicht, daß jede Aktiengesellschaft
oder Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die ihren Sitz in einem anderen
Mitgliedstaat hat, in Dänemark mittels einer Zweigniederlassung tätig werden
kann. Im allgemeinen akzeptiert sie also die Eintragung einer Zweigniederlassung
einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats errichteten Gesellschaft in Dänemark.
Insbesondere hätte sie die Eintragung der Zweigniederlassung der "Centros
Ltd." in Dänemark zugelassen, wenn diese in England und Wales eine Geschäftstätigkeit
entfaltet hätte.
16. Nach den Ausführungen der dänischen Regierung ist Art. 52 EGV im
Ausgangsfall nicht anwendbar, da es sich um eine rein interne dänische
Situation handele. Die Eheleute Bryde, die dänische Staatsangehörige seien, hätten
nämlich im Vereinigten Königreich eine Gesellschaft errichtet, ohne dort
irgendeine tatsächliche Geschäftstätigkeit zu entfalten, nur dem einzigen
Ziel, mittels einer Zweigniederlassung in Dänemark eine Geschäftstätigkeit
auszuüben und so die Anwendung des dänischen Rechts über die Errichtung der
Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu umgehen. Unter solchen Umständen
stelle die Errichtung einer Gesellschaft durch die Staatsangehörigen eines
Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat keinen gemeinschaftsrechtlich,
insbesondere im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit relevanten, über den
nationalen Rahmen hinausweisenden Aspekt dar.
17. Eine Sachlage, in der eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats, in dem
sie ihren satzungsgemäßen Sitz hat, gegründete Gesellschaft eine
Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat gründen will, fällt unter
das Gemeinschaftsrecht. Daß die Gesellschaft im ersten Mitgliedstaat nur
errichtet wurde, um sich in dem zweiten Mitgliedstaat niederzulassen, in dem die
Geschäftstätigkeit im wesentlichen oder ausschließlich ausgeübt werden soll,
ist dabei ohne Bedeutung.
18. Daß die Eheleute Bryde die Centros im Vereinigten Königreich zu dem
Zweck gegründet haben, das dänische Recht über die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals zu umgehen, was weder in den schriftlichen Erklärungen
noch in der mündlichen Verhandlung bestritten wurde, ändert ebenfalls nichts
daran, daß die Gründung einer Zweigniederlassung in Dänemark durch diese
britische Gesellschaft unter die Niederlassungsfreiheit i. S. der Art. 52 und 58
EGV fällt. Die Frage der Anwendung der Art. 52 und 58 EGV ist nämlich eine
andere als die, ob ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen kann, um zu
verhindern, daß sich einige seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der
durch den EG-Vertrag geschaffenen Erleichterungen der Anwendung des nationalen
Rechts entziehen.
19. Die Eheleute Bryde machen geltend, die Verweigerung der Eintragung ihrer
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat,
errichteten Gesellschaft in Dänemark stelle eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit dar. Nach ständiger Rechtsprechung umfaßt die
Niederlassungsfreiheit, die Art. 52 EGV den Gemeinschaftsangehörigen zuerkennt,
das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie
zur Errichtung von Unternehmen und zur Ausübung der Unternehmertätigkeit nach
den Bestimmungen, die im Niederlassungsstaat für dessen eigene Angehörige
gelten. Außerdem stellt Art. 58 EGV die nach dem Recht eines Mitgliedstaats
gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre
Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben,
den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
20. Hieraus folgt unmittelbar, daß diese Gesellschaften das Recht haben,
ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch eine Agentur oder eine
Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die
Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit
zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne die
Urteile EuGH, EuZW 1993, 740; EuZW 1999, 20).
21. Verweigert ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen die Eintragung
der Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen
Mitgliedstaat hat, so werden die nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats
gegründeten Gesellschaften an der Wahrnehmung ihres Niederlassungsrechts aus
den Art. 52 und 58 EGV gehindert.
22. Ein solches Vorgehen beschränkt also die Ausübung der in diesen
Bestimmungen gewährleisteten Freiheiten.
23. Die dänischen Behörden machen geltend, die Eheleute Bryde könnten
sich dennoch nicht auf diese Bestimmungen berufen, da die von ihnen
beabsichtigte gesellschaftsrechtliche Konstruktion einzig den Zweck verfolge,
die Anwendung des nationalen Rechts über die Errichtung von Gesellschaften mit
beschränkter Haftung zu umgehen, und deshalb eine mißbräuchliche Ausnutzung
des Niederlassungsrechts darstelle. Das Königreich Dänemark sei deshalb
berechtigt, Maßnahmen zur Verhinderung eines solchen Mißbrauchs zu treffen,
indem es die Eintragung der Zweigniederlassung verweigere.
24. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist ein Mitgliedstaat zwar
berechtigt, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, daß sich einige
seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den EG-Vertrag geschaffenen
Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts entziehen; die mißbräuchliche
oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht ist nicht gestattet (vgl. u.
a. EuGH, NJW 1975, 1095; EuZW 1993, 251; NJW 1996, 2421).
25. Zwar können die nationalen Gerichte unter solchen Umständen im
Einzelfall das mißbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen
auf der Grundlage objektiver Kriterien in Rechnung stellen, um ihnen
gegebenenfalls die Berufung auf das einschlägige Gemeinschaftsrecht zu
verwehren; sie haben jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die
Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten.
26. Im Ausgangsfall sind die nationalen Vorschriften, denen sich die Betr.
entziehen wollten, Vorschriften über die Errichtung von Gesellschaften, aber
nicht Vorschriften über die Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten. Ziel
der Vertragsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit ist es jedoch gerade,
es den nach dem Recht eines Mitgliedstaats errichteten Gesellschaften, die ihren
satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung
innerhalb der Gemeinschaft haben, zu erlauben, mittels einer Agentur,
Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft in anderen Mitgliedstaaten tätig zu
werden.
27. Damit kann es für sich allein keine mißbräuchliche Ausnutzung des
Niederlassungsrechts darstellen, wenn ein Staatsangehöriger eines
Mitgliedstaats, der eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem
Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte
Freiheit lassen, und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen gründet.
Das Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats zu errichten
und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen zu gründen, folgt nämlich
im Binnenmarkt unmittelbar aus der vom EG-Vertrag gewährleisteten
Niederlassungsfreiheit.
28. Dabei ist unerheblich, daß das Gesellschaftsrecht in der Gemeinschaft
nicht voll harmonisiert worden ist; außerdem bleibt es dem Rat jederzeit überlassen,
aufgrund der ihm in Art. 54 III lit. g EGV übertragenen Befugnisse diese
Harmonisierung zu vervollständigen.
29. Daß eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat,
keine Geschäftstätigkeiten entfaltet und ihre Tätigkeit ausschließlich im
Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung ausübt, belegt zudem noch kein mißbräuchliches
und betrügerisches Verhalten, das es dem letzteren Mitgliedstaat erlauben würde,
auf diese Gesellschaft die Gemeinschaftsvorschriften über das
Niederlassungsrecht nicht anzuwenden.
30. Somit ist es mit den Art. 52 und 58 EGV unvereinbar, daß ein
Mitgliedstaat es mit der Begründung ablehnt, die Zweigniederlassung einer nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, errichteten
Gesellschaft einzutragen, die Zweigniederlassung solle es der Gesellschaft ermöglichen,
ihre gesamte Geschäftstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat auszuüben, wobei die
Zweigniederlassung dem nationalen Recht über die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals entzogen werde, da diese Weigerung jede Wahrnehmung
der Freiheit zur Gründung einer Zweigniederlassung verhindert, die durch die
Art. 52 und 58 gerade gewährleistet werden soll.
31. Es stellt sich noch die Frage, ob das nationale Vorgehen aus den von den
dänischen Behörden angeführten Gründen gerechtfertigt sein könnte.
32. Unter Bezugnahme auf Art. 56 EGV und auf die Rechtsprechung des
Gerichtshofes zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses macht die
Zentralverwaltung geltend, die Pflicht der Gesellschaften mit beschränkter
Haftung zur Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals verfolge zum einen den
Zweck, die finanzielle Solidität der Gesellschaften zu verstärken, um die öffentlichen
Gläubiger vor der Gefahr zu schützen, daß die öffentlichen Forderungen
uneinbringlich würden, da diese anders als private Gläubiger ihre Forderungen
nicht durch eine Sicherheit oder Bürgschaft sichern könnten; zum anderen solle
sie ganz allgemein alle öffentlichen und privaten Gläubiger schützen, indem
sie der Gefahr eines betrügerischen Bankrotts aufgrund der Zahlungsunfähigkeit
von Gesellschaften mit unzureichendem Anfangskapital vorbeuge.
33. Es gebe kein milderes Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Das andere
Mittel zum Schutz der Gläubiger, gesetzlich bei Erfüllung bestimmter
Voraussetzungen eine Durchgriffshaftung der Gesellschafter vorzusehen, sei nicht
milder als die Verpflichtung zur Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals.
34. Wie festgestellt, sind diese Gründe für Art. 56 EGV ohne Belang. Im übrigen
sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nationale Maßnahmen, die die Ausübung
der durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten behindern oder weniger
attraktiv machen können, zulässig, wenn vier Voraussetzungen erfüut sind: sie
müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen zwingenden
Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie müssen zur Erreichung des
verfolgten Zieles geeignet sein, und sie dürfen nicht über das hinausgehen,
was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. EUGH, EuZW 1993, 322;
NJW 1996, 579).
35. Diese Voraussetzungen sind im Ausgangsfall nicht erfüllt. Zum einen ist
das dänische Vorgehen nicht geeignet, das mit ihm verfolgte Ziel des Gläubigerschutzes
zu erreichen, da die Zweigniederlassung in Dänemark eingetragen worden wäre,
wenn die Gesellschaft eine Geschäftstätigkeit im Vereinigten Königreich ausgeübt
hätte, obwohl die dänischen Gläubiger in diesem Fall ebenso gefährdet
gewesen wären.
36. Da die Gesellschaft als Gesellschaft englischen Rechts, nicht als
Gesellschaft dänischen Rechts auftritt, ist den Gläubigern weiter bekannt, daß
sie nicht dem dänischen Recht über die Errichtung von Gesellschaften mit
beschränkter Haftung unterliegt; sie können sich auf bestimmte
gemeinschaftsrechtliche Schutzvorschriften berufen wie die 4. Richtlinie
78/660/EWG des Rates vom 25. 7. 1978 aufgrund von Art. 54 III lit. g EWGV über
den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen und die 11.
Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. 12.b 1989 über die Offenlegung von
Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter
Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen.
37. Außerdem könnten entgegen dem Vorbringen der dänischen Behörden
mildere Maßnahmen getroffen werden, die die Grundfreiheiten weniger beeinträchtigten.
So könnten etwa die öffentlichen Gläubiger rechtlich die Möglichkeit
erhalten, sich die erforderlichen Sicherheiten einräumen zu lassen.
38. Kann somit ein Mitgliedstaat die Eintragung der Zweigniederlassung einer
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in der sie ihren Sitz hat,
errichteten Gesellschaft nicht verweigern, so kann er doch alle geeigneten Maßnahmen
treffen, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl -
gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet
wurde - gegenüber der Gesellschaft selbst als auch gegenüber ihren
Gesellschaftern, wenn diese sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren
Verpflichtungen gegenüber inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern
entziehen möchten. Jedoch kann die Bekämpfung von Betrügereien nicht
rechtfertigen, die Eintragung einer Zweigniederlassung einer in einem anderen
Mitgliedstaat niedergelassenen Gesellschaft zu verweigern. 39. Die Vorlagefrage
ist demgemäß dahin zu beantworten, daß ein Mitgliedstaat, der die Eintragung
der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen
Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist,
aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, gegen die Art. 52 und 58 EGV verstößt,
wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte
Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung
errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige
Recht übe, die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere
Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt. Diese
Auslegung schließt jedoch nicht aus, daß die Behörden des betreffenden
Mitgliedstaats alle geeigneten Maßnahmen treffen können, um Betrügereien zu
verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl – gegebenenfalls im
Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde - gegenüber
der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den Gesellschaftern, wenn diese sich
mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber inländischen
privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten.
Quelle: EuGH, Urteil vom 9.3.1999 - Rs. C-212/97 (EuZW 1999, 216)